Neue Wege II

Man muss Warten können und das Warten als Möglichkeit erkennen. Zumindest das sind wir bei Pulp Master gewohnt, denn nicht nur literarische Qualität braucht vor allem Zeit. Mooniac ist natürlich auch noch längst nicht so weit und wird vom Trainer step by step behutsam für die Turf-Saison 2019 vorbereitet. Das Warten ist diesmal keine Existenzfrage, sondern vielmehr die Kunst noch geduldiger darauf zu warten, dass sich rund um das Verlags- und Familienleben — nennen wir es mal die Realität, in der man zu funktionieren hat — ein weiteres Tor zu einem spannenden Abenteuer mit ungewissem Ausgang öffnet. Die Realität wird zunächst einfach nur um eine neue Dimension erweitert. Nun gehört nicht nur die Buchmesse zur Routine, sondern auch mal wöchentliche Stallbesuche oder das Begutachten von Trainingsfortschritten an der Bollendorfer Trainierbahn früh um 6 Uhr 50, wenn die Dzubasz Schützlinge und Mooniac im Kanter gehen. Um hautnah dabei zu sein, geht es vor der eigentlichen Arbeit auf dem Motorrad eine halbe Stunde gen Osten, die Sonne steht dann noch sehr flach, während sich auf der Gegenfahrbahn die Berufspendler im Stop & Go stadteinwärts bereits die Laune vermiesen lassen. Als Anti-Frühaufsteher hätte ich mir so viel Engagement nie träumen lassen! Der Trainer selbst redet nie fiel. Auf dem Gelände des Rennstalls fallen knappe Sätze und kurze Infos wie: »Er hat Schienbeine, wir setzen zwei Wochen aus.« Ich nicke, muss aber selbst erst mal googlen, welche Tragweite die Schienbeine bedeuten. Der Trainer sitzt schon wieder auf. Nach den Hengsten sind die Stuten dran. Das kleine Team hat mächtig zu tun. Aber alles scheint reibungslos zu funktionieren, wenn man sich bloß nicht verquatscht. Also: Mooniac hat Wachstumsschmerzen und durch das Training Haarrisse in der Knochenhaut, eine Art Kinderkrankheit bei den Zweijährigen. Ein paar seiner Geschwister sind schon etwas weiter und Vater Sea the moon als Denkhengt gut im Soll wie später die renomierte Racing Post berichten wird. Als Mooniac wieder ins Training einsteigt, bringe ich ihm Möhren und Rote Beete vorbei. Er sieht blendend aus, ist muskelbepackt und drahtig zugleich. Der Trainer hat mit Mooniacs Stallnachbarn Balmain, seinem in dieser Saison einzigen 3-Jährigen mit Derbynennung, gerade den Derby-Trail in Hannover gewonnen. Interessant: Letztes Jahr wurde Balmain im großen Trainingsquartier in Heumar aussortiert. Als Roland Dzubasz an meiner Box vorbeiläuft, beglückwünsche ich ihn und sage: »Die Sportwelt bleibt skeptisch, weil die Favoriten aus den großen Ställen so schwach waren.« »Scheiß auf die Sportwelt«, sagt er. Ich grinse. Diese Haltung kommt mir bekannt vor. Der Trainer fügt noch hinzu: »Hauptsache, es klappt.« Das hat es bereits. Balmain ist für das 149. Deutsche Derby qualifiziert. Das Gruppe 1 Rennen in Hamburg-Horn ist das größte und bedeutendste Galoppsport-Ereignis in Deutschland. Meine Augen leuchten. Ich habe natürlich sofort das 150. Derby mit Mooniac im Kopf, doch der Trainer kann nicht nur Pferde lesen und sagt lapidar: »Erst muss er mal übern Sommer kommen.« Ich denke nach. Der Trainer ist schon wieder weg. Was heißt das nun wieder? Rekordhitze und trockene Piste in Brandenburg, also keine idealen Trainingsbedingungen. Dann die die Pubertät, manche Hengste bekommen ihre Hormone nicht in den Griff, werden unberechenbar, spinnen und zeigen im Training keinen Biss mehr. Kastriert und als Wallach ginge dann schon wieder mehr, aber die Zuchtpläne in einem renommierten Gestüt, in das zahlungskräftige Besitzer ihre gutgezogenen Stuten bringen, wären perdu. Balmain hat sich inzwischen im Training die Hinterhand gezerrt und wird aus dem Starterfeld des Derbys gestrichen. Zum Ausheilen und Vorbereiten verbleibt zu wenig Zeit. Der Trainer kennt diese Situationen, die vermutlich zu jedem Sport dazugehören und zuckt stoisch mit den Achseln. Soll heißen: So ist das Leben, weiter geht’s. Ich befasse mich also mit dem diesmal überschaubaren Starterfeld und versuche wie jedes Jahr die Derby-Dreier-Wette zu treffen. Letztes Jahr hat es zum ersten Mal geklappt. Nur 14 Starter anstelle von möglichen 20. Keine Ausländer. Die schätzen die deutschen Steher in der Distanz über 2.400 m als sehr stark ein, zudem gelten die Rennpreise und das Renommee des Derbys, international betrachtet, als zweitrangig. 390.000 Euro wären für den Sieger drin; leider ein Bruttobetrag, von dem ein erheblicher Steuerabzug für ausländische Besitzer anfiele. Die Wette an sich wird nur interessant, wenn die Favoriten scheitern, was im Derby sogar relativ oft passiert: Wenn sich mindestens ein oder zwei Underdogs mit hohen Quoten in den Einlauf mogeln; denn im Rennverlauf über das Horner Moor ist so gut wie nichts kalkulierbar. Dieses Mal jedoch nicht, das 149. Derby ist eine reine zwei Klassengesellschaft, den Einlauf machen die Favoriten unter sich aus, die Vierer-Wetter ein Fliegenschiß. Eher langweilig, aber das 150. Derby ist ja bereits in meinem Hinterkopf. Aber die Worte des Trainers auch: »Erst muss er mal übern Sommer kommen.«